Kinematische Geometrie

Hans Walser

Geometrische Fragen und †berlegungen werden mit kinematischen Modellen illustriert. Beim Bau dieser Modelle ist, auch fŸr zweidimensionale Figuren, die Raumvorstellung gefordert.

Inhalt: Beispiele von wenig bekannten Abwicklungen. Diskussion zum Begriff ãNetzÒ. Minimale Anzahl Klebelaschen. Aufwickeln zu Kreis und Dreieck. Das Rad auf dem Rad und die Fourier-Entwicklung. Hundekurve und Parametertransformation. Winkel-drittelung. Konstruierbarkeit mit Zirkel und Lineal. Aufwickeln zum WŸrfel. Roboter mit fŸnf bewegten Drehachsen.

Wozu passt die Abwicklung?

Die Abbildung 1a zeigt eine WŸrfelabwicklung.

 

Abb. 1: Abwicklungen

 

Die fŸnfmal so lange Abwicklung der Abbildung 1b kšnnte entsprechend fŸnffach um den WŸrfel gewickelt werden – was allerdings Probleme mit der Kartondicke gŠbe. Gibt es einen Kšrper mit der einfachen Abwicklung der Abbildung 1b? (Lšsung siehe Abb. 7).

WŸrfelabwicklungen

Mein Enkel hat mir kŸrzlich unter die Nase gerieben, er habe neun von den elf WŸrfelnetzen (Abb. 2) selber herausgefunden. Er sagte WŸrfelnetz, so stehe es im Schulbuch.

 

Abb. 2: WŸrfelabwicklungen

 

Die Bezeichnung ãNetzÒ fŸr Polyederabwicklungen ist zwar in SchulbŸchern gelŠufig, ist aber ein semantischer Ausrei§er. Im Bedeutungsumfeld ãNetzÒ geht es  immer um Knoten und deren Verbindungen. In den Abwicklungen der Abbildung 2 gibt es aber oft zwei oder gar drei Knoten, welche zur selben WŸrfelecke gehšren. (Warum gibt es kein Beispiel, wo sogar vier Knoten zur selben WŸrfelecke gehšren?) – Das widerspricht der Vorstellung eines Netzes. Man stelle sich einen Verkehrsnetzplan vor, in welchem der Hauptbahnhof zweimal vorkommt.

Die Abbildung 3 zeigt ãechteÒ Beispiele von WŸrfelnetzen.

 

Abb. 3: WŸrfelnetze

 

Klebelaschen

FŸr die Anordnung der Klebelaschen einer Polyederabwicklung gibt es eine einfache Regel. Bei jeder zweiten Kante auf dem Rand muss eine Klebelasche angebracht werden. Damit erhalten wir eine Vollverklebung.

Die Frage nach der Minimalverklebung ist spannender. Mit wie wenigen Klebelaschen hŠlt das Polyeder gerade noch?

Bei den WŸrfelabwicklungen genŸgen in der Regel zwei Klebelaschen (exemplarisch in Abb. 4). Gleichfarbig markierte Kanten mŸssen mit einer Klebelasche verbunden werden. Bei zweien der elf Abwicklungen (rechts unten) genŸgt sogar eine Klebelasche.

 

Abb. 4: Minimale Klebelaschen

 

Die Abbildung 5 zeigt ein Beispiel-Modell mit nur einer Klebelasche.

 

Abb. 5: FahnenwŸrfel

 

Transmissionskette

Die Abwicklung der Abbildung 1b besteht aus fŸnf Abwicklungen der Abbildung 1a, welche an der einzigen nštigen Klebelasche zusammengeklebt sind. Solche verlŠngerte Abwicklungen kšnnen als Transmissionsketten verwendet werden (Abb. 6b). Die ZahnrŠder sind WŸrfel, welche auf einer Kšrperdiagonalen als Achse drehen (Abb. 6a).

Mein Enkel ist der Meinung, auf diese Weise kšnne man keine †bersetzungen bauen. Hat er recht?

 

Abb. 6: Transmission

 

Dreidimensionales Kreuz

Die Abwicklung der Abbildung 1b passt auf ein aus sieben WŸrfeln zusammengesetztes dreidimensionales Kreuz (Abb. 7). Ausprobieren!

 

Abb. 7: Dreidimensionales Kreuz

 

Aufwickeln auf einen Kreis

Wird ein gespannter Faden auf eine Spule aufgewickelt, beschreibt das Fadenende eine Evolvente (Abb. 8).

 

Abb. 8: Aufwickeln auf einen Kreis. Evolvente

 

Wir kšnnen aber auch so verfahren, dass der Faden gleichmŠ§ig gekrŸmmt wird (Abb. 9).

 

Abb. 9: GleichmŠ§ig gekrŸmmt

 

Das Fadenende beschreibt eine Kurve mit der Polargleichung:

 

 

 

 

Die Kurve kann zu einer Herzkurve ergŠnzt werden (Abb. 10a). Diese ist etwas grš§er als die klassische Kardioide (Abb. 10b).

 

Abb. 10: Herzkurve. Vergleich mit Kardioide

 

Aufwickeln auf ein Dreieck

Beim Aufwickeln mit gespanntem Faden auf ein Dreieck lŠuft das Fadenende auf einer Folge von Kreisbšgen mit schrittweise abnehmendem Radius (Abb. 11).

 

Abb. 11: Folge von Kreisbšgen

 

Nun wickeln wir so auf, dass wir den Faden gleichmŠ§ig knicken (Abb. 12). An den Knickstellen sollen die Au§enwinkel gleichmŠ§ig zunehmen.

 

Abb. 12: GleichmŠ§ig geknickt

 

Wir kšnnen das sehen wie das Schlie§en einer flachen Hand zur Faust. Bei der Hand haben wir allerdings – vom HandrŸcken aus gezŠhlt – vier Teile, und diese sind nicht von gleicher LŠnge.

 

Abb. 13: KreisŸberlagerung

 

Die erste Knickstelle ist ortsfest. Die zweite Knickstelle lŠuft auf einem Kreis. Der Endpunkt des Šu§ersten Schenkels lŠuft auf einer Kurve, welche eine KreisŸberlagerung darstellt. Auf dem ersten Kreis lŠuft der Mittelpunkt des zweiten Kreises, der mit doppelter Geschwindigkeit dreht.

Im eingezeichneten Koordinatensystem kann die entstehende Kurve parametrisiert werden wie folgt (1).

 

                     (1)

 

 

Wir sehen eine Fourier-Folge, die nach zwei Schritten abbricht.

Die Abbildung 14 zeigt ein mechanisches Modell mit ZahnrŠdern.

Das ganz gro§e Zahnrad sitzt im Leerlauf auf einer gerŠtefesten Achse und wird von unten (kleines Zahnrad) angetrieben. Es dient dem Anheben des ersten bewegten Schenkels. Auf derselben Achse sitzt vorne ein ortsfestes Zahnrad. Dieses dreht sich also gegenŸber dem GerŠt nicht. Durch das Anheben des beweglichen Schenkels wird aber Ÿber zwei kleine ZwischenzahnrŠder das Šu§erste Zahnrad angetrieben. Dieses dreht doppelt so rasch wie der bewegliche Schenkel (†bergang von t zu 2t in der Parameterdarstellung). Dieses Šu§erste Zahnrad bewegt den Šu§eren Schenkel des GerŠtes. Die Bewegung des Šu§ersten Punktes dieses Schenkels entspricht der KreisŸberlagerung der Abbildung 13.

Die beiden kleinen ZwischenzahnrŠder dienen nur zur VerlŠngerung des ersten beweglichen Schenkels. FŸr die Kinematik sind sie unerheblich und kšnnten weggelassen werden.

 

Abb. 14: Mechanisches Modell

 

Hundekurve

Die Kurve der Abbildung 13 ist eine ãHundekurveÒ. Wir legen die Wurst in den Doppelpunkt. Wenn nun die Madame mit dem Fiffi an der roten Einheitsleine auf dem blauen Kreis spazieren geht, bewegt sich der Fiffi auf der inneren Schleife der grŸnen Kurve (Abb. 15). Der zweite Hund der Madame, der Veggi, bewegt sich auf der Šu§eren Schleife.

 

Abb. 15: Fiffi und Veggi

 

Bevor wir das beweisen, zwei mechanische Modelle. In beiden Modellen stellt die blaue Kreisscheibe die Madame dar, die rote Kreisscheibe den Fiffi, die grŸne Kreisscheibe den Veggi und die orange Kreisscheibe die Wurst.

Im Modell der Abbildung 16 ist eine FŸhrungsstange sichtbar, welche den Fiffi zur Wurst leitet. Allerdings haben wir dort einen Anschlag, und es geht nicht mehr weiter.

 

Abb. 16: FŸhrungsstange mit Anschlag

 

Im Modell der Abbildung 17 sind FŸhrungsstange und Wurst eine Ebene nach vorne verlegt. Daher kann, wenn der Fiffi die Wurst erreicht hat, weitergedreht werden. Der Fiffi entfernt sich dann auf der Šu§eren Schleife von der Wurst. Als nŠchstes erreicht die Madame die Wurst. Das ist der ãtote PunktÒ des Modells. Die beiden Hunde kšnnten in dieser Situation vertauscht werden. Das Weiterdrehen funktioniert aber Ÿber diesen toten Punkt hinweg. Nun nŠhert sich der Veggi der Wurst und erreicht sie. Anschlie§end bewegt er sich auf der inneren Schleife, bis er wieder die Wurst erreicht. Durch Weiterdrehen erhalten wir schlie§lich die Ausgangsposition mit dem Fiffi auf der inneren und dem Veggi auf der Šu§eren Schleife.

 

Abb. 17: FŸhrungsstange nach vorn verlegt

 

Beweis

Wir haben zu zeigen, dass die Kurve der Abbildung 13 mit der Parametrisierung (1) tatsŠchlich eine Hundekurve ist.

Wir bezeichnen wie schon frŸher mit t den Parameter des blauen Kreises, also fŸr die Bewegung der Madame. Im gelb eingezeichneten gleichschenkligen Dreieck ist dies der Au§enwinkel des Spitzenwinkels. Die beiden Basiswinkel sind je halb so gro§.

 

Abb. 18: Parametrisierung der Hundekurve

 

Mit Hilfe des parallel verschobenen Basiswinkels  kann nun die Bewegung des Veggi parametrisiert werden. Es ist:

 

               (2)      

 

 

 

Der Vergleich der Parametrisierungen (1) und (2) ist zunŠchst irritierend. Die ersten beiden Summanden sind (scheinbar) identisch, im letzten Summanden haben wir einmal das Doppelte und einmal die HŠlfte des Parameters.

Das Problem lšst sich mit einer Parametertransformation. Wenn wir in (1) den Parameter durch einen doppelt so gro§en substituieren und den zweiten und dritten Summanden vertauschen, ergibt sich (2). Auch die Parameterbereiche stimmen dann wieder Ÿberein. Damit ist der Beweis erbracht.

Der Autor gesteht, dass nicht nur seine Studierenden, sondern auch er selber Probleme mit solchen Parametertransformationen hat. Man muss mit einer Hilfsvariablen arbeiten, die man am Schluss dann umbenennt.

Ein Diskussionspunkt ist die Frage, ob zwei durch verschiedene Parametrisierungen beschriebene, aber identische Punktmengen als dieselbe Kurve bezeichnet werden kšnnen. Fundamentalisten verneinen dies. FŸr eine Kurve ist die Parametrisierung essentiell, so wie der Definitionsbereich zum Funktionsbegriff gehšrt. Geometer und Kartografen haben da weniger Skrupel. Wien bleibt Wien, egal ob auf der Plattkarte oder der Mercator-Karte.

Die Parametrisierung (2) gibt Anlass zu einem weiteren mechanischen Modell fŸr die Kurve (Abb. 19).

 

Abb. 19: Ein weiteres Modell fŸr die Hundekurve

 

Die Wurst ist hier mechanisch všllig isoliert. Das Modell funktioniert mit einem Kettengetriebe. Das Šu§ere Kettenrad ist doppelt so gro§ wie das innere. Es dreht daher halb so schnell. Dies liefert den halben Parameter im letzten Summanden von (2). Das RŠdchen mit dem schwarzen Gummireifen ist nur ein Kettenspanner. Er ist erforderlich, damit das Modell prŠzis genug arbeitet. †ber Hundekurven und verwandte Kurven siehe Haftendorn (2017), S. 38-78.

Winkeldrittelung

Die Parametrisierungen (1) und (2) ergeben global dieselben Punkte, aber nicht punktweise. FŸr einen bestimmten Parameterwert ergeben sich zwei verschiedene Punkte, die aber beide auf der Kurve liegen (Abb. 20).

 

Abb. 20: Verschiedene Punkte

 

Bis zum Punkt auf dem blauen Kreis unterscheiden sich die beiden Parameterdarstellungen nicht. Mit der Parametrisierung (1) erhalten wir dann aber gegenŸber der Horizontalen einen Winkel von 2t und fŸr denselben Parameterwert mit der Parametrisierung (2) einen Winkel  von . Die Differenz ist , also das Dreifache des kleinen Winkels . Damit ergibt sich eine Mšglichkeit zur Winkeldrittelung.

Sie geht so: Wir zeichnen gemŠ§ Abbildung 21 ein gleichschenkliges Dreieck mit dem zu drittelnden Winkel als Spitzenwinkel. Dieses Dreieck passen wir dann so ein, dass auch die zweite Basisecke auf der Kurve liegt. Der Winkel zur Horizontalen durch die Dreiecksspitze ist dann ein Drittel des Ausgangswinkels.

 

Abb. 21: Winkeldrittelung

 

BerŸhrung der Dreiecksspitze

In der Abbildung 13 sehen wir, dass der Šu§ere Schenkel die Dreiecksspitze zunŠchst berŸhrt und dann Ÿberschneidet. Bei welchem Parameterwert t findet die BerŸhrung (Abb. 22) statt?

 

Abb. 22: BerŸhrung

 

Wir machen eine Au§enwinkelŸberlegung im blau eingezeichneten gleichschenkligen Dreieck. Der gesuchte Parameterwert t ist der Au§enwinkel der Basiswinkel. Der Spitzenwinkel hat den Au§enwinkel t + 60¡. Die Summe der drei Au§enwinkel ist also 3t + 60¡. Da umgekehrt in jedem Vieleck die Summe der Au§enwinkel 360¡ betrŠgt, ergibt sich t = 100¡.

Ich habe in meinem bisherigen Leben noch nie einen Winkel von 100¡ angetroffen. Dies liegt wohl daran, dass ein solcher Winkel nicht mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist. Der Beweis dazu verlŠuft indirekt. Angenommen, ein Winkel von 100¡ sei mit Zirkel und Lineal konstruierbar. Dann lie§e sich ein Winkel von 60¡ subtrahieren und wir erhielten einen Winkel von 40¡, alles mit Zirkel und Lineal. Dies ist der Zentriwinkel eines regelmŠ§igen Neunecks, welches damit ebenfalls mit Zirkel und Lineal konstruierbar wŠre. Das widerspricht aber einem Satz von Gau§ Ÿber die Konstruierbarkeit regelmŠ§iger Vielecke.

Das rechnerische Vorgehen fŸhrt auf kubische Gleichungen.

Das analoge Problem beim Aufwickeln auf ein Quadrat (Abb. 23) fŸhrt nicht auf einen ãschšnenÒ Winkel. Die zugehšrigen Gleichungen sind vom Grad 12.

 

Abb. 23: Auf ein Quadrat aufwickeln.

 

Aufwickeln auf einen WŸrfel

Wir wickeln nun die Abwicklung der Abbildung 1a gleichmŠ§ig geknickt auf den WŸrfel. Die Abbildung 24 zeigt die Startlage und den ersten Schritt mit einer Drehung um 5¡. Das vorderste Quadrat bleibt ortsfest. Dann wird um jede Kante, welche zwei Quadrate verbindet, je um 5¡ gedreht. Das hei§t, dass zwar die erste Drehachse auch ortsfest bleibt, aber schon die zweite Drehachse und mit ihr alle folgenden Drehachsen verdreht werden. Wir haben dieselbe Situation wie bei einem Roboter, der mehrere Drehachsen hat, welche sukzessive verdreht werden.

 

Abb. 24: Start und Drehung um 5¡

 

Die Abbildung 25 zeigt die Situation nach Drehungen um 40¡ und um 45¡.

 

Abb. 25: Drehungen um 40¡ beziehungsweise 45¡

 

In der Abbildung 26 haben wir die Situation nach der Drehung um 85¡ und schlie§lich die Endlage des WŸrfels.

 

Abb. 26: Drehung um 85¡ und geschlossener WŸrfel

 

BerŸhrung einer WŸrfelecke

Analog zu den Abbildungen 22 und 23 interessiert die Frage, ob und wo der einzupackende WŸrfel berŸhrt wird. Ich bin diese Frage nur experimentell angegangen. Die Abbildung 27 zeigt die Startposition mit dem WŸrfel und die erste feststellbare Durchschneidung bei einer Drehung von etwa 70¡.

 

Abb. 27: Start und Beginn der WŸrfeldurchdringung bei etwa 70¡

 

In der Abbildung 28 sehen wir die beiden Folgeschritte.

 

Abb. 28: Drehungen um 75¡ respektive 80¡

 

 

Literatur

Haftendorn, Dšrte (2017): Kurven erkunden und verstehen. Mit GeoGebra und anderen Werkzeugen. Wiesbaden: Springer Spektrum. ISBN 978-3-658-14748-8.

 

Websites

Hans Walser: FahnenwŸrfel (abgerufen 17.09.2019)

www.walser-h-m.ch/hans/Miniaturen/F/Fahnenwuerfel/Fahnenwuerfel.htm