Hans Walser, [20160609]

Gestalt der Erde

1     Worum geht es?

Im spŠten 17. Jahrhundert entspann sich ein wissenschaftlicher Streit um die Gestalt der Erde (Brotton 2012, S. 308): Die AnhŠnger von Descartes (1596-1650) befŸrworteten eine eifšrmige lŠngliche Form (gestrecktes Ellipsoid, Abb. 1a), die AnhŠnger von Newton (1643-1727) eine hamburgerfšrmige abgeplattete Form (abgeplattetes Ellipsoid, Abb. 1c). In der Abbildung 1 sind beide Formen stark Ÿbertrieben gezeichnet. TatsŠchlich waren die vorgeschlagenen Abweichungen von der Kugelgestalt (Abb. 1b) so gering, dass eine Antwort nicht auf der Hand lag.

Abb. 1: Welche Gestalt ist die richtige?

Es wird versucht, die geometrischen Grundlagen zur Entscheidung dieser Frage aufzuarbeiten.

2     Meridiane und Breitenkreise

In der Abbildung 2 sind zusŠtzlich die Meridiane und Breitenkreise mit einem 15¡-Raster eingezeichnet.

Abb. 2: Meridiane und Breitenkreise

3     Abstand der Breitengrade

Auf dem Weg lŠngs eines Meridians vom €quator zum Nordpol Ÿberschreiten wir auf einer Kugel (Abb. 2b) in regelmŠ§igen AbstŠnden einen Breitengrad. Die gesamte Strecke ist 10'000 km (gemŠ§ der historisch ersten Meterdefinition). Wir haben insgesamt 90¡. Somit ist der Abstand zwischen zwei Breitengraden:

 

                                                                                                       (1)

 

Die Kugel der Abbildung 2b ist mit einem 15¡-Raster dargestellt. Der SŸd-Nord-Abstand zwischen zwei gezeichneten Breitenkreisen ist somit je 1666.666... km. SelbstverstŠndlich hŠngt diese LŠnge vom Radius der Erdkugel ab. Auf dem Mond oder dem Mars (beide kleiner als die Erde) wŠre sie kleiner, auf dem Jupiter, dem grš§ten Planeten des Sonnensystems, entsprechend grš§er. — Im 17. Jahrhundert wurde nicht mit dem metrischen System gearbeitet. Man verwendete andere LŠngenma§e. Das ist aber fŸr unsere †berlegungen unwesentlich.

Die Ellipsoide der Abbildungen 2a und 2c sind ebenfalls mit einem 15¡-Raster dargestellt. Wir haben allerdings das ãGefŸhlÒ, dass die SŸd-Nord-AbstŠnde zwischen den gezeichneten Breitenkreisen nicht alle gleich sind. Bei der Abbildung 2a werden sie gegen den Nordpol hin kŸrzer, bei der Abbildung 2c hingegen lŠnger.

Das muss erklŠrt werden.

4     Wie wird die geografische Breite gemessen?

Die Abbildung 3 zeigt ebenfalls in einem 15¡-Raster die Situation der Kugel in einem Achsenschnitt, wie das in der Schule gehandhabt wird. Die geografische Breite  ist der Winkel im Kugelmittelpunkt zwischen vom €quator hinauf auf den Breitenkreis. In der Abbildung 3 ist exemplarisch die geografische Breite  eingetragen.

 

Abb. 3: Geografische Breite bei der Kugel

Diese Idee kann nicht auf ein reales Ellipsoid Ÿbertragen werden. ZunŠchst kšnnen wir auf der Erde ja gar nicht zu ihrem Mittelpunkt vordringen.

Weiter ist es so, dass die Lote auf einem Ellipsoid nicht auf seinen Mittelpunkt zeigen. Die Abbildung 4 illustriert dies fŸr den abgeplatteten Fall.

Abb. 4: Lote beim Ellipsoid

Wir kšnnen auf der Kugel aber die geografische Breite auch mit der Richtung zum Polarstern bestimmen (exemplarisch fŸr  in Abb. 5). Diese Richtung ist parallel zur Erdachse.

Abb. 5: Geografische Breite mit Hilfe des Polarsterns

Analog kšnnen wir auf dem Ellipsoid vorgehen (exemplarisch fŸr  in Abb. 6).

Abb. 6: Geografische Breite mit Hilfe des Polarsterns

In der Abbildung 6 sind die Punkte mit den geografischen nšrdlichen Breiten 0¡, 15¡, 30¡, 45¡, 60¡, 75¡, 90¡ eingezeichnet, der 15¡-Raster also. Wir sehen, dass sich die AbstŠnde zwischen zwei solchen Punkten gegen den Nordpol zu vergrš§ern. Um das zu verstehen, benštigen wir den Begriff des KrŸmmungskreises.

5     KrŸmmungskreis

Der KrŸmmungskreis in einem Punkt einer Kurve, in unserem Fall der Meridianellipse, ist derjenige Kreis, der sich der Kurve am besten anschmiegt. Er ist also sozusagen eine kreisfšrmige Tangente.

Die Abbildung 7 zeigt die KrŸmmungskreise an die Meridianellipse fŸr die geografischen Breiten 30¡ (orange) und 60¡ (lila).

Abb. 7: KrŸmmungskreise

Da die KrŸmmung der Ellipse gegen den Pol zu abnimmt, wird er KrŸmmungskreis entsprechend grš§er.

Lokal, das hei§t in einer Umgebung eines bestimmten Punktes, unterscheidet sich die Ellipse kaum vom KrŸmmungskreis. FŸr die Frage der BogenlŠnge von einem Breitengrad zum nŠchsten kšnnen wir also nŠherungsweise auf den Kreis abstellen. Da diese BogenlŠnge aber vom Kreisradius abhŠngt, ist sie fŸr einen Punkt in der NŠhe des Pols grš§er als fŸr einen Punkt in der NŠhe des €quators.

Dies gilt fŸr ein abgeplattetes Ellipsoid (Abb. 2c). FŸr ein gestrecktes Ellipsoid (Abb. 2a) verhŠlt es sich umgekehrt.

6     Entscheidungskriterium

Es gilt nun, die LŠnge von einem Breitengrad zum nŠchsten einerseits in €quatornŠhe und andererseits in PolnŠhe zu messen. Solche Messungen wurden 1735-1744 im heutigen Ecuador und 1736-1737 in Lappland durchgefŸhrt. Sie bestŠtigten die Annahme Newtons Ÿber die Abplattung der Erde.  

 

Literatur

Brotton, Jerry (2012): A History of the World in Twelve Maps. Penguin Books. ISBN 978-0-141-03494-5.