Hans Walser

Arbeitskreis Geometrie

Herbsttagung 14. – 16. September 2012, SaarbrŸcken

Tagungsthema: Begriffsbilden im Geometrieunterricht

 

Vergessene Vierecke

Zusammenfassung

Es werden drei Vierecke vorgestellt, die im Ÿblichen Begriffskanon, etwa dem Haus der Vierecke, offenbar vergessen worden sind. Sie haben nicht einmal einen Namen. Eines der drei Vierecke hat Beziehungen zu Pythagoras (Quadratsummen), BriefumschlŠgen, Faltgeometrie und Wegoptimierung im Viereck.

1        Drei Fragen und eine Lehrerfrage

á      Aus welchen Vierecken lŠsst sich ein Briefumschlag falten?

á      In welchem Viereck ist ?

á      In welchem Viereck hat es zwei gleich lange optimale Wegenetze? (Abb.1)

Abb. 1: rot = blau?

á      Lehrerfrage: In welchem Viereck sind die beiden Mittenlinien gleich lang?

2        Klassische Beispiele von Begriffssystemen

á      Ein Viereck ist ein Viereck ist ein Viereck: Das Haus der Vierecke zur Begriffsbildung und als Kanon? — Es kann bei SchŸlerinnen und SchŸlern den Anschein einer vollstŠndigen †bersicht erwecken, eines Kanons, au§erhalb desselben nicht mehr zulŠssig ist.

á      Carl von LinnŽ: Systema naturae

á      Mendelejew: Periodensystem

á      IUC notation: Bandornamente

á      Benjamin Samuel Bloom: Lernzieltaxonometrie

Begriffssysteme sollten erst eingefŸhrt werden, wenn sie sich von der Sache her aufdrŠngen.

3        Kindersprache und Schulsprache

Kindersprache: Viereck, Langeck

Schulsprache: Quadrat, Rechteck

Kindersprache: Dornršschen, Stachelbeeren

Schulsprache: Die Rosen haben Stacheln, die StachelbeerbŸsche haben Dornen.

4        Orthogonale Diagonalen

Das Viereck mit orthogonalen Diagonalen ist die allgemeine Lšsung zu den Eingangsfragen.

4.1      Mittenlinien

Bei einem beliebigen Viereck ist das Seitenmittenviereck ein Parallelogramm, dessen Seiten parallel zu den Diagonalen liegen. Die Mittenlinien sind die Diagonalen dieses Parallelogramms.

Abb. 2: Seitenmittenparallelogramm ein Rechteck

Genau bei orthogonalen Diagonalen ist das Seitenmittenparallelogramm ein Rechteck und seine Diagonalen sind gleich lang (Abb. 2).

In diesem Fall ist der FlŠcheninhalt des Viereckes das halbe Produkt der beiden DiagonalenlŠngen.

4.2      Briefumschlag

Aus welchen Vierecken lŠsst sich ein Briefumschlag falten?

Sicher geht es bei einem Rhombus: Wenn wir die vier Ecken in die Mitte einfalten, entsteht ein Briefumschlag (von den Klebefalzen wird abgesehen).

Gibt es andere Papier-Vierecke, mit denen sich Ÿberlappungsfrei und lŸckenlos ein Briefumschlag herstellen lŠsst?

Ist dies insbesondere mit einem Rechteck mšglich?

Jedenfalls kšnnen wir einen Briefumschlag falten, wenn die Diagonalen des ursprŸnglichen Papier-Viereckes orthogonal sind (Abb. 3). Der Umriss des Briefumschlages ist das Kantenmittenrechteck.

Abb. 3: Viereck mit orthogonalen Diagonalen

Die Ecken des Papier-Viereckes kommen im Diagonalenschnittpunkt zusammen. Geht es auch, wenn die Diagonalen nicht orthogonal sind?

4.3      Alternierende Quadratsumme

Abb. 4: rot = blau

Bei orthogonalen Diagonalen ergeben sich im Viereck vier rechtwinklige Dreiecke. Bei alternierender Anwendung des Satzes von Pythagoras neutralisieren sich die Kathetenquadrate.

4.4         Wegenetze im Viereck

Wir treffen die etwas naive Annahme, dass der Ausbaustandard unabhŠngig vom (erwarteten) Verkehrsaufkommen ist. Die grŸne Verbindungsstrecke zwischen den beiden Verzweigungspunkten (Abb. 5) soll also gleich wie die anderen Strecken gebaut werden, obwohl es sinnvoll wŠre, diesen Flaschenhals etwas breiter (und zur Kostonoptimierung etwas kŸrzer) zu bauen.

4.4.1    Beliebige Wegenetze

Wie kann die gesamte LŠnge eines beliebigen Wegenetzes (Abb. 5) in einem allgemeinen Viereck visualisiert werden?

Abb. 5: Wegenetz im Viereck

Der Trick (oder ist es eine Methode?) besteht darin, geeignete Dreiecke um 60¡ herauszudrehen (Abb. 6). Dadurch entsteht ein Polygonzug, der gleich lang ist wie das gesamte Wegenetz. Die Endpunkte dieses Polygonzuges sind Ecken von nach au§en angesetzten gleichseitigen Dreiecken.

 

Abb. 6: GesamtlŠnge und minimale GesamtlŠnge

Diese Endpunkte sind - bei gegebener Netztopologie - invariant; die MinimallŠnge des gesamten Netzes ergibt sich daher durch die Strecke, welche diese Endpunkte verbindet (Abb. 7).

 

Abb. 7: Verzweigungspunkte

Die Verzweigungspunkte finden sich dann durch die Umkreise der beiden gleichseitigen Dreiecke, welche auch Ortsbogen fŸr 120¡ sind.

4.4.2    Die zweite Lšsung

Wenn wir die beiden gleichseitigen Dreiecke an den anderen beiden Vierecksseiten aufsetzen, ergibt sich eine zweite Lšsung mit einer anderen Netztopologie. Dieses Netz hat in der Regel eine andere GesamtlŠnge. Unsere Konstruktionen liefern also nicht in jedem Fall das Minimalnetz, sondern allenfalls blo§ ein relatives Minimalnetz, das hei§t das Minimalnetz bei gegebener Netztopologie.

4.4.3     Welche Lšsung ist die bessere?

Zur KlŠrung der Frage, welche der beiden Lšsungen die bessere ist, genŸgt es offenbar, an den Vierecksseiten gleichseitige Dreiecke anzusetzen und die Verbindungen gegenŸberliegender Au§enspitzen zur vergleichen (Abb. 8).

Abb. 8: rot = blau?

Mehr dazu im folgenden Abschnitt.

4.5      Ansetzen von Šhnlichen gleichschenkligen Dreiecken

Wir bearbeiten einen allgemeinen Fall, indem wir den Seiten eines beliebigen Vierecks Šhnliche gleichschenklige Dreiecke ansetzen, und suchen dann einen Zusammenhang zwischen der roten und der blauen Strecke.

Wir verwenden die Vektoren und Bezeichnungen der Abbildung 9.

Abb. 9: Ansetzen von gleichschenkligen Dreiecken

Die gleichschenkligen Dreiecke haben den Basiswinkel . FŸr positives  sind die gleichschenkligen Dreiecke au§en anzusetzen, fŸr negatives  innen. FŸr  sind die rote und die blaue Strecke Verbindungslinien gegenŸberliegender Seitenmitten des Vierecks.

Mit einiger Rechnung finden wir:

FŸr  hei§t das folgendes:

Genau wenn die Diagonalen des Viereckes orthogonal sind, haben die rote und die blaue Strecke die gleiche LŠnge.

Genau wenn die Diagonalen des Viereckes gleich lang sind, stehen die rote und die blaue Strecke rechtwinklig aufeinander.

4.5.1     Orthogonale Diagonalen

Genau wenn die Diagonalen des Viereckes orthogonal sind, haben die rote und die blaue Strecke die gleiche LŠnge (Abb. 10). GemŠ§ dem Abschnitt Ÿber die alternierende Quadratsumme gilt zudem, dass die FlŠchensumme der roten gleichschenkligen Dreiecke gleich der FlŠchensumme der blauen gleichschenkligen Dreiecke ist.

Abb. 10: rot = blau

Genau in den Vierecken mit orthogonalen Diagonalen sind also auch die beiden optimalen Wegenetze gleich lang, was mit  gezeigt werden kann.

4.5.2     Gleich lange Diagonalen

Genau wenn die Diagonalen des Viereckes gleich lang sind, stehen die rote und die blaue Strecke rechtwinklig aufeinander (Abb. 11).

Abb. 11: rot senkrecht blau

Dies ist sozusagen die duale Situation zu den Vierecken mit orthogonalen Diagonalen.

5        Der Sonderfall

Wegen

folgt fŸr : Bei einem beliebigen Startviereck sind die rote und die blaue Strecke gleich lang und orthogonal (Abb. 12).

Die Au§enecken der Figur bilden also ein Viereck mit orthogonalen und gleich langen Diagonalen. Dies ist ein naher Verwandter des Quadrates.

Abb. 12: Viereck mit orthogonalen und gleich langen Diagonalen

Literatur

[Haag 2003]               Haag, Wilfried: Wege zu geometrischen SŠtzen. Stuttgart: Klett 2003. ISBN 3-12-720120-6