Hans Walser, Frauenfeld

 

Stoffdruck

 

Der Anlass

 

Anlass zu den folgenden †berlegungen waren Klagen, welche von Kolleginnen und Kollegen wiederholt angesichts bevorstehender €nderungen der schulischen Rahmenbedingungen geŠu§ert wurden: VerkŸrzung der Schuldauer, Abbau der Lektionenzahl im eigenen Fach, um neuen Unterrichtsformen oder frei wŠhlbaren SchwerpunktsfŠchern Platz zu machen, Forderungen von au§en, dies und jenes als dringend wŸnschbar zusŠtzlich in den Unterricht aufzunehmen und wohl auch der Wunsch, persšnlich bevorzugte Themen den SchŸlerinnen und SchŸlern nahezubringen. Diese Klagen kristallisieren gelegentlich in Resolutionen, offenen Briefen an zustŠndige Behšrden und sogar Klagen in Leserbriefen in Tageszeitungen. Die Klagen sind schulstufenŸbergreifend, indem jede Stufe der abgebenden Stufe vorwirft, sie ãleiste nichts mehrÒ und umgekehrt der Ÿbernehmenden Stufe Ÿberrissene AnsprŸche unterstellt.

 

Ich konnte diese oft in larmoyantem Ton vorgetragenen Klagen nie ganz ernst nehmen. Es ist ja so, dass ein voller Terminkalender und der daraus resultierende Zeitmangel in vielen Kreisen als Statussymbol gilt und daher eifrig gepflegt wird. Mit solchen eher zynischen Bemerkungen ist allerdings denjenigen Kollegen und Kollegen nicht geholfen, welche den Stoff- und Zeitdruck ernsthaft und bedrohlich empfinden.

 

Es geht auch anders

 

Eine gute Lehre fŸr den Umgang mit dem ãStoffdruckÒ war fŸr mich der Unterricht an einem Erwachsenengymnasium, wo fŸr denselben Ausbildungsauftrag wie im Gymnasium nur etwa ein Drittel der Lektionszahlen zur VerfŸgung stand.

 

Stoffdruck ist hausgemacht

 

ZunŠchst ist man der Meinung, ãDruckÒ komme von au§en. Die Liste der ãDrŸckeÒ ist lang: Termindruck, Lektionendruck, Klausurendruck, Methodendruck, Instrumentendruck, Innovationsdruck, Elterndruck, Erfolgsdruck, Lohndruck - sogar ein Stoffvakuum kann als Druck empfunden werden. Diese DrŸcke treffen die SchŸlerinnen und SchŸler gleicherma§en wie die Lehrpersonen. Stoffdruck ist aber hausgemacht.

 

Stoffdruck oder SouverŠnitŠt?

 

Die naheliegende Lšsung fŸr den Umgang mit dem Stoffdruck liegt im Schlagwort: ãBeherrsche den Stoff oder der Stoff beherrscht DichÒ. Dieses Schlagwort hat aber einen allzu militŠrischen Beigeschmack.

 

Wichtiger und richtiger muss sein, dass wir unser Thema - in unserem Falle die Mathematik - mit Freude vertreten und uns damit identifizieren kšnnen. Unsere SchŸlerinnen und SchŸler sollten auch in diejenigen mathematischen Fragen und Problemstellungen miteinbezogen werden, welche uns persšnlich beschŠftigen.

 

Abstand nehmen

 

Gleichzeitig ist es wichtig, vom Stoff Abstand zu nehmen, um eine †bersicht zu gewinnen. Dies kann zu einer Gratwanderung werden, mit Absturzmšglichkeiten auf beide Seiten: Die †bersicht kann durch eine zu schlechte, aber auch durch eine zu gute - vielleicht auch zu sehr akademisch angehauchte - Vorbereitung verstellt werden. Die ãProfessionalisierungÒ ist der Profession nicht immer fšrderlich. Aus einem gewissen Abstand heraus lŠ§t sich auch besser unterscheiden, welche Teile des Stoffes wirklich ausbildungsrelevant sind und welche Teile sich als †bungsroutine automatisch ergeben.

 

Eine Stunde dauert sechzig Minuten

 

An vielen Schulen werden die Pausen nicht ernst genommen - sie werden minutenweise verkŸrzt, um mšglichst viele Lektionen unterzubringen. Dies ist zunŠchst nur eine €u§erlichkeit, aber doch auch ein Hinweis, wes Geistes Kind die Schule ist:

 

Die QualitŠt einer Schule wird an ihren FreirŠumen gemessen

 

Von Peter Hilton stammt die folgende GegenŸberstellung:

 

Mathematicians like to work

á        without time constraints

á        pursue an idea wherever it leads them

á        consult other mathematicians, texts and papers

á        choose their own problems

 

Test conditions for students: none of these freedoms.

 

Das Wort ãFreiraumÒ nimmt in der aktuellen Lehrplandiskussion - und daher auch in den aktuellen LehrplanentwŸrfen - einen breiten Raum ein. Darin besteht aber auch eine Gefahr fŸr die FreirŠume: Sie werden verregelementiert oder wenigstens mit gutgemeinten Umsetzungshilfen versehen, so dass sie zu einem goldenen KŠfig fŸr SchŸlerinnen und SchŸler wie auch Lehrpersonen werden kšnnen.

 

Mut zur LŸcke

 

Weglassen ist eine Kunst. Umgekehrt besteht aber Kunst im Weglassen. Dies gilt auch fŸr die Kunst des Unterrichtens. Falsche Vorbilder verleiten zu einem ãVollstŠndigkeitswahnÒ. Solche falsche Vorbilder - teilweise lŠngst verinnerlicht - sind vielleicht der akademische Lehrbetrieb an UniversitŠten, aber auch LehrbŸcher, Kollegen und allenfalls LehrplŠne.

 

Kein Wissenskonto

 

SchŸlerinnen und SchŸler werden mit einem additiven Wissenskonto verwechselt - es wird befŸrchtet, dass eine AusbildungslŸcke lebenslŠnglich als Fehlbetrag ausgewiesen wird. Ich hatte wŠhrend einiger Jahre Gelegenheit, die SchŸlerinnen und SchŸler unserer Schule zu betreuen, welche ein Jahr im fremdsprachigen Ausland an einer dortigen Schule - mit einem sehr unterschiedlichen Lehrplan - verbrachten. Viele dieser SchŸlerinnen und SchŸler schafften nach ihrer RŸckkehr problemlos den Anschluss an ihre Stammklasse.

 

ãDer Geist ist kein GefŠ§, das es zu fŸllen, sondern ein Feuer, das es anzufachen giltÒ (Plutarch).