Hans Walser, [20210318]

Falscher Lšsungsweg

Anregung: F. E., V.

1   Worum geht es?

Beispiel einer Aufgabe, bei der ein falscher Lšsungsweg zur richtigen Lšsung fŸhrt

2   Die Aufgabe

Ein Gleis wird durch die Funktion

 

                                                                                                       (1)

 

 

 

beschrieben. Es endet an der Station  und soll  bis zur Station  fortgesetzt werden (Abb. 1). Die Fortsetzung soll durch eine Polynomfunktion dritten Grades beschrieben werden. Bestimme diese Polynomfunktion. Bedenke, dass die beiden Funktionen an der Station A keinen Unterbruch (Stetigkeit) sowie gleiche Steigung (kein ãKnickÒ) und gleiche KrŸmmung (kein ãRuckÒ) haben sollen.


Abb. 1: Situation

3   Der richtige Lšsungsweg

Aus (1) ergibt sich:

                                                       (2)

 

 

 

 

 

 

 

FŸr die Polynomfunktion dritten Grades machen wir den Ansatz:

 

                                 (3)

 

 

 

 

 

 

 

Wegen dem glatten und ruckfreien †bergang in A erhalten wir aus (2) und (3) durch Vergleich:

 

                                                                                                               (4)

 

 

 

 

 

 

Da der Graf der Polynomfunktion f durch  verlaufen muss, gilt zusŠtzlich:

 

                                                                                                 (5)

 

 

 

Die Bedingungen (4) und (5) bilden ein nichtlineares Gleichungssystem fŸr a, b, c, d. Es ist allerdings sehr einfach zu lšsen:

 

                                                                               (6)

 

 

 

Die NichtlinearitŠt entsteht durch die Gleichheit der KrŸmmung im †bergangspunkt.

Die Abbildung 2 zeigt den Grafen der Lšsung (rot).

Abb. 2: Lšsung

Die Abbildung 3 zeigt zusŠtzlich (blau) den gemeinsamen KrŸmmungskreis im †bergangspunkt A.

Abb. 3: KrŸmmungskreis

4   Der klassische Fehler

Nach einer nicht reprŠsentativen Umfrage bei meinen Geomatik-Studierenden an der ETH ZŸrich war etwa ein Viertel der falschen Meinung, die KrŸmmung sei die zweite Ableitung (analog zur Steigung, die durch die ersten Ableitung gegeben ist). Als (Gegen-)Beispiel dient die Parabel mit der Gleichung . Die zweite Ableitung ergibt die Konstante 2. Eine Kurve mit einer konstanten KrŸmmung ist aber ein Kreis.

(Bemerkung: Bei einer durch ihre eigene BogenlŠnge parametrisierten Kurve ist die LŠnge des zweiten Ableitungsvektors tatsŠchlich betragsmŠ§ig die KrŸmmung. Ein Funktionsgraf (mit Ausnahme der konstanten Funktion) ist aber nicht durch seine BogenlŠnge parametrisiert.)

Diese Fehlvorstellung ist nicht die Folge einer FehlŸberlegung, sondern einer Fehlinstruktion.

Wie wirkt sich diese Fehlvorstellung bei unserer Aufgabe aus?

5   Falscher Lšsungsweg

Statt der KrŸmmung der beiden Kurven mŸssen wir nun die zweiten Ableitungen gleichsetzen. Anstelle von (4) erhalten wir:

 

                                                                                                                          (4Õ)

 

 

 

 

 

Zusammen mit (5) erhalten wir nun ein lineares Gleichungssystem, das ebenfalls die Lšsung (6) hat. Trotz der Fehlvorstellung ergibt sich die richtige Lšsung.

6   Hintergrund

Aus der KrŸmmungsformel

 

                                                                                                  (7)

 

 

 

 

 

folgt unmittelbar, dass bei †bereinstimmung der ersten und der zweiten Ableitung auch die KrŸmmung Ÿbereinstimmt. Wir kšnnen dann mit dem aus (4Õ) und (5) bestehenden linearen Gleichungssystem arbeiten.

7   Verkehrstechnische Bemerkungen

In unserem Beispiel haben wir sowohl in der Station A wie auch in der Station B eine GleiskrŸmmung und damit gekrŸmmte Bahnsteige.

Ein Beispiel zu gekrŸmmten Bahnsteigen sind die Bahnsteige an den Geleisen 11 bis 16 im Obergeschoss des Berliner Hauptbahnhofes. Als Folge der durch die GleiskrŸmmung erforderlichen SchrŠgstellung der Trasse sind die Bahnsteige gegenschrŠg, so dass bei nicht gesicherten Kinderwagen oder Rollkoffern ein Wegrollen auf das Geleise mšglich ist.

Leider kann bei einer gekrŸmmten Gleisanlage im Bahnhof nicht einfach ein gerades GleisstŸck eingebaut werde, da sich dadurch sowohl bei der Einfahrt wie bei der Ausfahrt in den Bahnhof ein KrŸmmungssprung ergŠbe. Um dies zu vermeiden, mŸsste bei der Verwendung von Grafen von Polynomfunktionen mit Polynomfunktionen mindestens vierten Grades gearbeitet werden, so dass die Wendepunkte (dort haben wir keine  KrŸmmung) in die Bahnhofsein- und -ausfahrten gelegt werden kšnnten.

In der RealitŠt wird beim Gleisbau nicht mit Grafen von Polynomfunktionen gearbeitet  sondern mit Klothoidenbšgen. Klothoiden sind Kurven, bei denen die KrŸmmung proportional zur BogenlŠnge zu- oder -abnimmt.

Die Abbildung 4 zeigt ein aus Klothoidenbšgen zusammengesetztes Gleisoval.

Abb. 4: Klothoidenbšgen